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Vom Koffer unter'm Bett

Aktualisiert: 27. Nov. 2023

Jede*r von uns kennt sicherlich mindestens eine dieser Frauen, die voll und ganz für die Familie da sind. Die einen gehen komplett darin auf und sie lieben es, das Haus voll zu haben mit Tanten, Opas, Schwägerinnen und kleinen Kindern. Wenn eine Hochzeit ansteht, werden sie zuerst informiert, damit sie genug Zeit haben, die Torte zu planen. Ihr Haus ist Dreh- und Angelpunkt der gesamten Familie und mit allerlei (Kindheits-)Erinnerungen verbunden.

Vermutlich hüten sie so mancherlei Geheimnisse, die ihnen zugetragen werden und sie backen definitiv den besten Apfelkuchen. Und dann gibt es noch die Frauen, die ebenfalls diese Rolle verkörpern, aber eigentlich von was anderem träumen. Sie wurden irgendwie in diese Rolle gedrängt. Vielleicht mussten sie schon früh ihrer Mutter helfen, die Familienfeiern zu organisieren und haben es Stück für Stück übernommen. Die Geschwister haben sich weggeduckt, sind weggezogen oder beruflich stark eingespannt. Und der Rest der Familie macht sich vielleicht gar keine Gedanken darüber, mal zu übernehmen und bietet der Höflichkeit halber an, mal einen Salat beizusteuern.

Worauf ich hinaus möchte ist, dass es wunderschön sein kann, sich der Familie zu verschreiben und dass ich niemandem was Anderes einreden möchte. Es gibt aber eben auch diese zweite Gruppe. Sie fühlt sich der Familie verpflichtet und verliert sich selbst. Und irgendwann kommen dann diese Fragen, wie das Leben wohl wäre, wenn sie für sich aufgestanden wäre. Wenn sie die Reise gemacht hätte, die Goldschmiede eröffnet hätte, es doch versucht hätte, das Kinderbuch zu schreiben oder was auch immer. Was wäre aus all dem entstanden? Wie geht es wohl Anton heute? Was ist aus Isabell geworden?

Es gibt unzählige Geschichten über diese Menschen, die plötzlich den Koffer unter dem Bett hervorkramen und endlich ihre ganz ureigene Reise starten. Ich kenne keine Geschichte, die damit endet, dass sie es bereuen. Vielleicht haben sie am Anfang ihrer Reise Vorstellungen, die sich nicht im Ansatz bewahrheiten. Aber egal, wohin es sie verschlägt – ob sie genau in das Leben zurückkehren, aus dem sie aufgebrochen sind oder ob sie ein neues Leben beginnen – es war wichtig, diese Reise anzutreten.

Solch eine Reise kann ganz unterschiedlich aussehen. Vielleicht wird die Hauptfigur solcher Geschichten Autorin, vielleicht macht sie wortwörtlich eine Reise an andere Orte oder sie eröffnet eine Konditorei. Vielleicht auch alles zusammen.

Jedenfalls sind wir meist am Ende solcher Geschichten voller Liebe für diese Person. Wir freuen uns für ihren Mut, den sie aufgebracht hat und wir können diese Sehnsucht mitfühlen, weil wir fast alle das Hamsterrad schon einmal von innen gesehen haben. Egal, ob wir zu diesen Frauen zählen, die sich einer ganzen Großfamilie verschrieben haben oder ob wir „nur“ Partner*in und Kind(er) haben, aber die gesamte Care-Arbeit auf uns lastet. Ob wir „nur“ für uns selbst verantwortlich sind und viel zu viel Zeit und Energie in unsere Erwerbsarbeit stecken. Lebensentwürfe, eingerahmt im chicen Hamsterrad, gibt es viele.

Am Ende der Geschichten, auch wenn es absehbar war, sind wir erleichtert, dass unsere Protagonistin die Reise gewagt hat.


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